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Ich halte die verstärkte Beschäftigung
mit den Alltagsphänomenen für ausgesprochen überfällig.
Zehn Jahre habe ich selbst das Thema Stasi bearbeitet. Doch die
Aufarbeitung der DDR-Diktatur wird scheitern, wenn wir nur über
die Stasi-Gräuel sprechen. Denn bei der Fixierung auf den Geheimdienst
kommen wesentliche Bereiche des Lebens in der „sozialistischen“
Gesellschaft nicht vor: weder die führende Rolle der SED noch
die differenzierten Anpassungs- und Karrieremuster. Denn die DDR-Bevölkerung
ist in großen Teilen geprägt durch ein Angst-Anpassungssyndrom,
das keineswegs vom Polizei- und Geheimdienst allein geschaffen war.
Wir benötigen deshalb eine zweite Phase der Aufarbeitung.
Bei den Vorträgen, die ich in Ost und West halte,
stehen Terror und Zersetzung längst nicht mehr im Zentrum.
Viel lieber erzähle ich den Menschen, insbesondere den Wessis,
wie man ein Ossi wird. Ich erzähle gern von der kleinen Marie,
die als Erstklässlerin in die „Jungen Pioniere“
aufgenommen wird - blaues Halstuch, weißes Blüschen,
Faltenrock, blaues Käppi, den Pioniergruß „Seid
bereit - immer bereit“ stets auf den Lippen. Als Maries Mutter
einst nur vorsichtig versucht hatte, das Kind vom Eintritt in die
Pionierorganisation abzuhalten, hatte Marie schon angefangen zu
weinen. Verständlich, musste sie sich doch fragen, wo sie stehen
würde, wenn alle anderen Kinder das Pioniertuch umgelegt kriegen.
In der Ecke?
So wird Marie dann auch „Thälmannpionier“
in der vierten Klasse. Sie träumt davon, Gruppenratsvorsitzende
zu werden,
auch wenn die Mutter vorsichtig mahnt: „Versuch´s lieber
als Kassiererin der Pionierbeiträge!“ Marie kann die
Lieder, darf beim Fahnenappell auf dem Schulhof für ihre Klasse
sprechen, ist wichtiger Teil einer Gemeinschaft und wird bald Mitglied
der „FDJ“ sein, des Jugendverbandes, der eine „Kampfreserve“
der Partei ist. Aber das merkt man nicht so auf der Oberschule.
Das macht ja die Diktatur aus - man spürt sie nicht in jeder
Sekunde.
So geht das Leben seinen sozialistischen Gang. Vor
den großen Ferien fahren die älteren Schüler hinaus
in die Heide - das Schießen und Exerzieren muss eingeübt
werden, um die Heimat verteidigen zu können. Dazu müssen
auch die akustischen Signale der Wachsamkeit gehören. Jeden
Mittwoch um 13 Uhr gehen im Land die Sirenen, keiner kann sie überhören,
auch die nicht, die sich heute daran nicht mehr erinnern.
(Auszug aus DER SPIEGEL 25/2006
mit freundlicher Genehmigung des Autors)
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